Umzugskartons

Umzugskartons

Ich bin wirklich geschieden. Diese Erkenntnis überkommt mich gerade, sitzend in einem Berg von braunen Kartons, umgeben von weißen, lauter kalkweißen, sterilen Wänden. Meine Mutter hätte gelacht und mich darin belehrt, meine Scheidung hätte man schon Tage, Wochen, Monate vorhersehen können. Stefan war ihr ja schon länger nicht mehr so ganz geheuer. Mir schon. Nicht umsonst, habe ich mit 25 geheiratet, nur um jetzt mit knappen 26 Jahren Scheidungspapiere unterzeichnen zu müssen. Aber was soll ich sagen, ich dachte nun mal wirklich, er sei es gewesen, er und ich, die große Märchenbuchschulliebe, die für immer hält. Ist ja auch egal jetzt, ich habe besseres zu tun, als mich selber zu bemitleiden. Also ran an die braunen Trauerklötze. Im ersten Karton Badeutensilien. Handtücher, Handseife, Haarbürste, das ganze Paket eben. Die Kosmetik, genauer gesagt meine blaue Mascara, erinnert mich an Susanne, Kindergartenfreundin Susanne. Hat mir doch diese Wimperntusche zum Zwanzigsten geliehen, um mit mir in die Disco zu gehen und zu feiern. Hätte ich ihr vielleicht mal zurückgeben müssen, habe mit ihr aber ja die letzten zwei Jahre nicht mehr geredet, seit der Verlobung mit…. Sie meinte immer, er täte mir nicht gut und ich würde am Ende ohne Karriere dastehen. Karriere habe ich inzwischen, ihn und sie nicht mehr. Naja, weiter mit dem Auspacken. Das Badezimmer sieht jetzt fast so aus wie früher, nur ein Spiegel fehlt noch, den sollte ich wohl auch noch auf meine Einkaufsliste setzten. „Listen halten einen organisiert und das Leben im Blick“, sagte Cindy immer und auch wenn ich sie damals noch dafür ausgelacht habe, Listen seien doch reine Papier- und Zeitverschwendung, danken konnte ich ihr nun nie für meine inzwischen gewordene Lieblingsbeschäftigung. Weiter ins Wohnzimmer, für das konnte ich gleich zwei braune Kartons von meinem Ex ergattern. Was ein großzügiger junger Mann er doch ist. Tisch und Stühle wurden schon geliefert. Er hat zwar Kratzer und sie sind etwas wackelig, aber an ihnen hängen zu viele Erinnerungen von ehemaligen Spieleabenden und langen Nächten mit ehemaligen Kollegen und sogar noch Schulfreunden, als dass ich sie wegschmeißen könnte. Dabei könnte ich mir ja neue leisten, würde meine Mutter „nur kurz nebenbei“ anmerken. Die Wohnung hallt trotzdem. Fernseher, Beistelltisch, Sofa sowie einige fliederfarbene Farbelemente werden auf- und ausgeräumt und ich erwische mich dabei, wie ich lauthals anfange zu lachen, bei dem Gedanken an die Diskussion über Farbgestaltung mit Cindy und Steffi damals, während des Einzugs in die Wohnung von Stefan und mir. Er ließ es nicht zu, dass ich die Wohnung mit „Frauenfarben“ vermülle, stattdessen sollte ich neutrale Farben aussuchen. Kurzerhand kauften mir die zwei, fliederfarbene Kissen und Decken, sie mochten den Kerl eh nie und sind bei der Gelegenheit, sich ihm zu widersetzen wirklich aufgeblüht. Ich habe sie zu jener Zeit angeschrien und die Bezüge schleunigst in graue ausgetauscht, doch jetzt ist flieder meine Lieblingsfarbe und jede Möglichkeit meine Freiheit wiederzugewinnen, nutze ich. Die beiden werde ich wohl eher nicht wiedergewinnen. Inzwischen lächele ich und tanze durch meine kahlen vier Wände, begebe mich in mein zukünftiges Schlafzimmer. Das alte Bett wollte ich ganz sicher nicht behalten, bei dem scheidungsauslösenden Ereignis, dass sich in ihm ereignet hat. Stattdessen grinse ich mein neues, großes, nein riesiges Boxspringbett an und springe kurzerhand in die wolkenweichen Bettlaken. Er hätte sein Gesicht dabei verzogen, ich strahle von einem Ohr zum anderen. Da halte ich plötzlich inne. Wem soll ich denn all meine Freude um mich und meine Entscheidung, endlich die Freiheit gewählt zu haben, mitteilen? Doch schnell verdränge ich diesen traurigen Gedanken und tänzele zu meinem Kleiderschrank. Der zugehörige Umzugskarton ist gefüllt mit Erinnerungen, Momentaufnahmen und Erlebnissen meiner kurzen Lebenszeit. Selbst mein Abi-Kleid mit passender Tasche finde ich. Wird natürlich sofort anprobiert und ich bewundere mein Stilbewusstsein von damals. Ich sehe echt nicht schlecht aus, auch wenn das Kleid sich nicht mehr schließen lässt. Mit Stefan wäre dies zu einem Problem geworden, für mich ist es eine Erlösung der besonderen Klasse. In der Tasche entdecke ich einen Zettel vollgekritzelt mit Wünschen für die Zukunft, meine und die der anderen. Zwischen guten Jobs, Kindern und Haustieren schwirren „Dass wir in Kontakt bleiben, dass du und er sich trennen, dass wir uns öfter sehen“ usw. Denken konnte ich mir ja fast schon, welche davon in Erfüllung gegangen sind und welche nicht. Trotzdem ertappe ich mich dabei, mentale Haken und Kreuze hinter jeden der Punkte zu setzen. Da überkommt mich auf einmal die Einsamkeit, obwohl ich doch so umgeben von Wohlfühlfaktoren bin. Fertig werde ich nach einer weiteren halben Stunde dann aber doch noch. Als letztes stehen noch ein kleiner Feinschliff, Deko und mein ganzer Krims-Krams an. Dafür brauche ich Musik, denke ich mir, nachdem ich meinen MP3-Player aus der Steinzeit ebenfalls in der Tasche ausfindig mache. Also schalte ich das Radio an und höre gerade noch, wie der Song eines Newcomers angekündigt wird, er hieße Marc, ist zwei Jahre älter als ich und kommt sogar aus meiner Ecke. Was ein Zufall, einen Marc kannte ich auch, lange hatten wir nicht mehr miteinander zu tun, wäre da nicht die Tatsache, dass er meine erste Liebe und mein erster Kuss war, hätte ich ihn wahrscheinlich schon wieder vergessen, so lange ist das Ganze mit uns beiden her. Genau deswegen lasse ich auch meine fliederfarbenen Tulpen fallen, als ich die nächsten dreieinhalb Minuten dem Lied „First Love“ dabei zuhöre, wie es von einer blonden, jungen, leider schon vergeben Jugendliebe Emilia erzählt, die der Sänger seit dem ersten und auch letzten Kuss zwischen den Zweien einfach nicht mehr aus seinem Kopf bekommt.